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Kurzgeschichten

Eisnot

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Der Münchner Olympiasee ist eigentlich gar kein See, sondern eher ein etwas zu groß geratener Ententeich. Durch geschickte Stauung hat man den unscheinbaren Stadtbach, der das Olympiagelände durchzieht,  so stark anschwellen lassen, daß an den breitesten Stellen auch ein kräftiger Mann einen Stein nicht bis zum anderen Ufer werfen kann.

Enten, Gänse, Schwäne und Wasserhühner haben hier ein kleines Paradies entdeckt. Im ständig fließenden, klaren Wasser balgen sie sich mit den Möwen und Karpfen um das Brot, das ihnen einheimische und auswärtige Besucher zuwerfen.

Das Wasser ist so flach, daß ein Erwachsener es auch an den größten Vertiefungen ohne Mühe zu Fuß durchqueren kann, ohne nasse Schultern zu bekommen. Trotzdem ist dieser idyllische Teich schon Ort eines entsetzlichen Unglücks geworden.  Eine längere Kälteperiode hatte den Olympiasee mit einer dicken Eisschicht überzogen und Jung und Alt zum Schlittschuhfahren, Eisstockschießen und Eishockey eingeladen. Da setzte ein jäher Wärmeeinbruch dem Vergnügen ein Ende. Das Eis trug nicht mehr. Dies brachte mehreren uneinsichtigen Kindern den gemeinsamen Tod und mehreren erwachsenen Zuschauern die gemeinsame Schande.

Die Erinnerung an dieses Drama verfolgte uns, als wir im letzten Winter mit unserem Sohn an diesem Ort spazierengingen. Wieder war der See nach längerem strengen Frost mit einer Eisschicht überzogen. Und wieder hatte eine föhnige Erwärmung dem Eis seine Tragfähigkeit weitgehend genommen. Aber erklären Sie das einmal einem tatendurstigen dreizehnjährigen Jungen... Wenigstens am Rand mußte er doch ausprobieren, ob das Eis wirklich nicht trug! Alles zog ihn aufs Eis - außer den Stimmen seiner besorgten Eltern. Nasse Füße waren schnell erreicht, der Erholungswert des Spaziergangs für die Eltern stark gesunken.

Da, ein Blick zum anderen Ufer, Entsetzen, stockender Atem: ein Menschenauflauf, ein Polizeiwagen, zwei Polizeiwagen, was war geschehen?

Nach kurzer Überlegung - Entspannung: Das nächste Loch im Eis war weit von der Menge entfernt und lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Die Stimmung der Menschen erschien uns auch eher ratlos als geängstigt oder entsetzt. Blicke und Handbewegungen gingen immer wieder in die gleiche Richtung, und dort kämpfte kein ertrinkendes Kind um sein Leben. Das Eis war nicht gebrochen. Dort saß ein Schwan. Kaum seinem Jugendkleid entwachsen. Unbeweglich. Ohne Antwort auf Rufen und Winken. Lautlos. Duldend. Traurig. Festgefroren?  Der eine Polizeiwagen fuhr wieder weg. Der andere blieb. Die Menge blieb. Wir auch. Was würde geschehen?  Gedanken wurden laut: Das sprachlose Schicksal eines Schwans. Das lautlose Dulden. Die Unmöglichkeit des Hilferufs. Die Ergebung. Das Warten auf Rettung. Die stille Verzweiflung.

Dann die Diskussion der praktischen Schwierigkeiten: Die Verletzungsgefahr bei untauglichen Fluchtversuchen. Die Bergung. Das Heraussägen der Eisscholle. Die Gefahr für die Retter. Das Abwägen des Nutzens und des möglichen Schadens. Die Familien der verunglückten Retter. Die Tränen ihrer verwaisten Kinder. Und all das nur für einen Schwan?

Aber versuchen sollte man doch, ihn zu retten! Konnte man einfach zusehen, wie das Tier zugrunde ging? Vielleicht kamen ja Feuerwehrleute. Die verstehen doch ihr Geschäft! Das Eis trug vielleicht sogar, dort drüben... Und Rettungsgerät würden sie auch mitbringen!

Die Feuerwehr kommt tatsächlich, eskortiert vom zweiten Polizeiwagen, der sie abgeholt hat. Die Retter steigen aus, hören aufmerksam den vielstimmigen Bericht der Umstehenden an, prüfen dann selbst die Lage. Der Schwan scheint zu spüren, daß die neue Entwicklung der Dinge ihm gilt. Er dreht den Kopf, schaut aufmerksam zum Ufer. Sonst keine Regung, er sitzt wie festgegossen. Rufe aus der Menge. Keine Bewegung. Heftiges Armeschwenken. Trauriges Abwenden des edlen Kopfes.

Da muß eingegriffen werden. Der Entschluß ist gefaßt. Den kurzen Weg zum Gerätewagen gehen, hinaufklettern an der dafür vorgesehenen Stelle, eine Leiter wählen, sie dem Kollegen nach unten reichen, zum Strand bringen, über das Eis legen, dann wird man schon etwas unternehmen können!

Gedacht, getan. Neue Hoffnung. Das unglückliche Tier sieht das Werkzeug seiner Rettung kommen, wendet seinen Blick nicht mehr ab. Erleichterung bei den Zuschauern.

Die Leiter ist zu kurz.

Einholen der Leiter, erneute Kletterpartie auf dem Rettungsfahrzeug, Herunterreichen einer Verlängerung, Zusammenbau, kurzes Abschätzen der gewonnenen Reichweite, es könnte passen, hin zum Strand, langsam vorschieben aufs Eis, ja, wir schaffen es, Kollege, mach dich bereit hinauszukriechen, ich sichere dich, nur noch ein Meter, komm!

Da hatte der Schwan genug von dem Trubel, stand auf und ging gemächlich über die Eisfläche von dannen...

Nach einer Schrecksekunde ging ein ungläubiges Raunen durch die Menge, das sehr schnell die Färbung eines schüchternen Lachens annahm und nach einem atemberaubenden Crescendo die angestaute Spannung in einem befreienden und wahrhaft homerischen Gelächter entlud. Wir waren Teil der Menge. Erleichtert nickten wir dann einander zu und nahmen unseren unterbrochenen Spaziergang wieder auf. Noch Stunden später wunderten sich vorübergehende Bürger über ein grundloses und ansteckendes Lachen, das ab und zu unvermittelt über uns kam.

Hans-Rudolf Hower 1992

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Letzte Aktualisierung: 06.04.16