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Vorbemerkung des Übersetzers
Dieses Nachwort fehlt in den deutschen Ausgaben von Kiepenheuer & Witsch und Aufbau-Verlag. Für die Entscheidung, das Nachwort nicht in die veröffentlichte Übersetzung aufzunehmen, kann man viele gute Gründe aufführen. Tatsache ist jedoch, dass das Nachwort nicht völlig außerhalb des Romangeschehens steht, sondern dieses fiktiv fortführt in eine wünschenswerte Zukunft. Erst im allerletzten Absatz verlässt der Autor die Ebene der Fiktion und meldet sich selbst zu Wort. Als Dokument zum Verstehen des Autors und seines Werkes finde ich das Nachwort auf jeden Fall wichtig und will es daher den deutschsprachigen Lesern und Leserinnen auf diesem Wege zugänglich machen. Leider waren bisher meine Bemühungen umsonst, im Verlagswesen jemanden zu finden, der sich zuständig fühlte und Zeit für die Beantwortung meiner Frage nach den Veröffentlichungs- und Übersetzungsrechten hatte. Angesichts dieser Tatsache und weil die kostenlose Veröffentlichung der Übersetzung hier niemandem Schaden zufügt, sondern eher einen neuen Kaufreiz für das Buch schafft, will ich den LeserInnen den übersetzten Text nicht länger vorenthalten. Falls sich dennoch jemand in seinen Rechten beeinträchtigt fühlen oder nachträglich eine für diese unsere Seite relevante Veränderung bei den Veröffentlichungs- und Übersetzungsrechten eintreten sollte, bitte ich um entsprechende Mitteilung, um unnötigen Rechtsstreit zu vermeiden. Ich bin jederzeit bereit, diese Übersetzung wieder vom Netz zu nehmen. Anatolij Rybakow ist einer der vielen Autoren, deren Auffassung vom eigenen Werk sich bei der Veröffentlichung bzw. Übersetzung nicht voll durchsetzen konnte. Er ist in bester Gesellschaft, denn Tolstois „Krieg und Frieden“ wurde z.B. oft noch viel stärker gekürzt, sogar gerade um die Teile, die dem Autor als die wichtigsten erschienen... |
Anatolij Rybakow, Nachwort
Am 20. Juni 1944 traf das Gardeschützenkorps, das General Maxim Iwanowitsch Kostin befehligte, im Bezirk der Bahnstation Rafaluwok westlich von der Stadt Sarna ein und ließ sich in den Wäldern östlich von Kowel nieder. Die Verlegung wurde im Geheimen durchgeführt. Die Truppen wurden auf unauffälligen Nebengleisen und kleinen Bahnhöfen entladen und drangen unter sorgfältiger Tarnung in die Wälder ein. General Kostin befahl, nur nachts vorzurücken, verbot, in den Flüssen und Seen zu baden und Wäsche zu waschen, verbot jeden Funkverkehr, befahl, die Telefongespräche auf ein Minimum zu reduzieren und sie zu chiffrieren und zu kodieren. Maxim Iwanowitsch Kostin war Befehlshaber eines Regimentes in der Nähe von Moskau und einer Division in Stalingrad gewesen. Am oberen Donez hatte er das Korps übernommen, hatte an der Isjum-Barwenkow- und anderen offensiven Operationen teilgenommen, dann an der Befreiung des Donbass, der Bezwingung des Dnjepr, den Gefechten an den Flüssen Ingul und Südlicher Bug, der Befreiung Odessas. Die Mannschaften waren reihenweise gefallen, viele Mannschaften; Maxim Iwanowitsch hatte die Verlustberichte unterschrieben: Gefallene, Verwundete, Ausfälle ohne Feindberührung. Die Mannschaften, ihr Leben und Sterben waren Bestandteile des Krieges. Die Befehle, die er gab, waren auch Bestandteile des Krieges und wurden unverzüglich durchgeführt. Hinter der Gutmütigkeit des Generals verbarg sich die Fähigkeit, Mannschaften einer gestellten Aufgabe zu unterwerfen, hinter seiner Einfalt der flexible Verstand eines militärischen Taktikers mit der Begabung, kühne, überraschende Entscheidungen zu treffen, hinter der äußerlichen Nachgiebigkeit eine raffinierte Auslegung der dienstlichen Beziehung, die Fähigkeit, auch inmitten zwingender Umstände noch zu manövrieren. Ihn kannte und schätzte Schukow; dies verursachte einige persönliche Schwierigkeiten mit dem Oberkommando der Armee, aber die Treuherzigkeit und Gutmütigkeit dieses großen, etwas dicklichen und mit seinen fünfunddreißig Jahren noch jungen Generals, sein offenes Bauerngesicht entwaffneten sogar den schrecklichen Oberbefehlshaber der Armee Tschuikow. Das Korps kam am 20. Juni an, und nach drei Tagen, am 23. Juni, begann die Operation „Bagration“, die zur Aufgabe hatte, Weißrussland zu befreien und die alten Staatsgrenzen hinter sich zu lassen. An der Operation nahmen 166 Divisionen teil. Aber die Armee, zu der das Korps des Generals Kostin gehörte, wurde nicht ins Gefecht geführt. Etwas später stand ihr bevor, die deutsche Verteidigungslinie im Abschnitt Kowel-Lublin zu durchbrechen und zum Westlichen Bug vorzustoßen. Für die Vorbereitung dieses Angriffs wurde ungefähr ein Monat gegeben – eine sehr geringe Zeitspanne, wenn man den schwer angeschlagenen Zustand der Verbände nach den vorausgegangenen harten Kämpfen, den unzureichenden Personalstand und das schwierige Relief des Geländes berücksichtigt. Die vorhergehenden Operationen hatte das Korps im Süden, in den Steppen der Ukraine und der Moldau geführt; hier hieß es jedoch, in morastigen Wäldern anzugreifen, die von Wasserläufen und Bächen mit sumpfigen Ufern durchschnitten waren. Die Truppen lernten, Wege und Pfade von quergelegten Baumstämmen, Wolfsgruben, Minen zu säubern, hindernde seichte Wasserläufe zu überwinden, Knüppeldämme zu bauen, Sümpfe und Torfmoore zu durchqueren. Das Korps erhielt großen Zulauf aus der örtlichen, von den Deutschen befreiten Bevölkerung und musste diese Leute wenigstens in der einfachsten Waffenhandhabung ausbilden. Zu den Befehlsständen gelangte Maxim Iwanowitsch mit einem „Willis“, weiter zu Pferde. Das von den Divisionen besetzte Gebiet stellte einen gigantischen Sumpf dar, teilweise mit Mischwald bewachsen: Kiefer, Birke, Erle, Eiche. Mitten im Sumpf verstreut waren kleine sandige Inseln, aber trotzdem stand auch hier in den Unterständen das Wasser; daher zogen die Soldaten die mit Kiefernreisig bedeckten Zelte vor. Und zurecht, dachte Maxim Iwanowitsch, draußen war Frühling, es war warm, die Soldaten sollten ausschlafen, sie sollten gut genährt werden, darauf passte er sehr genau auf. Am 3. Juli nahmen unsere Truppen Minsk ein. Sie durchbrachen die Front auf einer Strecke von 400 Kilometern und rückten weiter ungestüm vor. Diese Nachricht fand Maxim Iwanowitsch auf dem Befehlsstand des Regimentes vor; er dachte, dass sich die Termine für den Vormarsch des Korps jetzt ändern konnten und er deshalb früher als gewöhnlich nachhause zurückkehren würde. Jedoch ergingen keinerlei neue Anweisungen vom Armeestab. Und diesen Abend verbrachte Maxim Iwanowitsch wie gewöhnlich: Er versammelte die Stabsoffiziere, sprach davon, was ihn an den Truppen nicht zufrieden stellte, verteilte Aufgaben, hörte Berichte an. Als er um ein Uhr nachts schon alle entlassen hatte, knöpfte Maxim Iwanowitsch den Kragen seiner Militärjacke auf, man qualmte, rauchte den Raum voll, man musste lüften. Er selbst rauchte nicht, aber er konnte das nicht einmal in seinem eigenen Unterstand verbieten. In der Nähe lärmte gleichmäßig ein kleiner Motor; sie würden ihn ausschalten, sobald Maxim Iwanowitsch sich schlafen legte. „Genosse General,“ meldete der Adjutant, „der neue Chef des motorisierten Fahrdienstes wartet auf Sie.“ „Was will er?“ „Seine Ankunft melden, seinen Dienstantritt.“ „Soll er sich doch beim Stabschef melden.“ „Das habe ich ihm ja gesagt, aber er beharrt darauf.“ „Gut, soll er reinkommen.“ Maxim Iwanowitsch beugte sich über eine Karte. Der Gedanke daran, dass die Termine für den Vormarsch verschoben werden konnten, verließ ihn nicht. Darauf muss man vorbereitet sein; der Befehl kann jede Minute eintreffen... Die Tür knarrte. Maxim Iwanowitsch riss sich von der Karte los, wandte sich um... In der Tür stand ein Offizier in einem alten, aber ihm gut stehenden Uniformmantel mit Feldschulterstücken, in Schirmmütze und Regenstiefeln. Sein Gesicht war nicht zu sehen, die flackernde kleine Lampe erhellte nur den Tisch mit der darauf ausgebreiteten Karte... Und doch kam Maxim Iwanowitsch irgendetwas vor, als ob er es schon seit langem kannte an dieser Gestalt, die schweigend und angespannt bei der Tür auf ihn wartete; irgendetwas Beunruhigendes rührte sich in seiner Seele. Der Offizier warf die Hand an die Mütze, sagte mit deutlicher Aussprache: „Genosse General! Gardemajor Pankratow steht zu Ihrer Verfügung wegen dienstlicher Versetzung.“ Er klappte die Hand herunter, blieb weiter in „Hab-acht“-Haltung stehen. Das kann nicht sein. Ist das möglich?! „Ihr Befehl!“ sagte plötzlich Kostin mit gesenkter Stimme. Der Offizier holte den Befehl aus der Kartentasche, trat vor, reichte ihn Maxim Iwanowitsch. Aber dieser wandte sich zum Tisch, zog am Draht an der Ummantelung, die Lampe ging in die Höhe, sie erhellte den ganzen Unterstand, und als Maxim Iwanowitsch sich von Neuem dem Offizier zuwandte, sah er schon deutlich – Sascha! Maxim Iwanowitsch nahm den Befehl... Ja, genau, Pankratow, Alexander Pawlowitsch... Er hob die Augen... Ihn schaute seine Kindheit an, seine Jugend, sein Arbat... Und Maxim Iwanowitsch hielt sich nicht zurück, unwillkürlich fragte er: „Sascha, du?“ Seine Stimme bebte... „Ich bin es,“ antwortete der Offizier. Sascha... Lebendig... Woher ist er gekommen? Wie? Auf welche Weise? Maxim Iwanowitsch hatte nicht nur den Krieg mitgemacht; er hatte auch die Vorkriegsjahre mitgemacht, sowohl 37 als auch 38 als auch 39. Vor seinen Augen hatten sie gute Kommandeure verhaftet, zu Volksfeinden erklärt, treue Genossen, erprobt in den Kämpfen in Spanien, am Chassan[1], am Chalchin-Gol [2]. Waren sie wirklich Feinde gewesen? Er wollte das nicht glauben und konnte das nicht glauben; andernfalls wäre es unmöglich, der Sache zu dienen, der ihr Leben geopfert worden war. Am richtigsten war es, nicht darüber nachzudenken. Diese Leute waren verschwunden, waren hinübergegangen in eine andere, ihm unbekannte Welt, aus der es für niemanden eine Rückkehr gab. Und da tauchte aus dieser Welt Sascha auf. Nach zehn Jahren! Wie hat er sie durchlebt? Wie ist er am Leben geblieben? Warum hat er sich ausgerechnet an ihn gewandt, an sein Korps? Was steckt dahinter? Unbedacht hatte er zu verstehen gegeben, dass er ihn erkannt hatte; unbedacht hatte er ihn Sascha genannt. Der Offizier hob erneut die Hand zur Mütze. „Erlauben Sie, dass ich berichte, Genosse General?!“ Er sprach die Wörter deutlich aus... Das war seine, Saschas Stimme... Und doch, und doch... „Rühren! Ich höre Ihnen zu.“ Sascha senkte die Hand. „Genosse General! Damit vollständige Klarheit herrscht: Ich habe eine Vorstrafe nach Paragraph 58, das steht in meiner Personalakte. Ich habe nicht um Aufnahme in Ihr Korps gebeten. Ich wollte nicht zu Ihnen fahren. Aber Befehl ist Befehl. Es gab keinen Grund, ihn anzufechten. Das Einzige, worauf ich mich hätte berufen können, war unsere frühere Bekanntschaft. Aber solch ein Argument hätte die Führung nicht zugelassen. Und jene hätten berücksichtigt, wer zuständig war, mich zu beaufsichtigen. Das hätte Ihre Lage erschweren können. Deshalb bitte ich mich in den Frontstab zurückzuberufen. Ich bin Major; der Dienstgrad eines Obersten ist ein einleuchtendes Motiv. Eine solche Lösung wäre am richtigsten sowohl für Sie als auch für mich. Maxim Iwanowitsch schwieg. Mein Gott! Genau das ist der Saschka von früher, den er so gern hatte. Saschka, rechtschaffen, aufrichtig, prinzipienfest, will niemanden hintergehen, ist immer noch der Gleiche! Auf Maxim Iwanowitsch schaute wieder seine Jugend, offen, mutig, kompromisslos. Und in diesen aufflammenden Erinnerungen sah er auch sich als den Maxim Iwanowitsch von früher; er schämte sich seiner vorübergehenden Schwäche: Er vergaß, wer er gegenwärtig war, schwankte, ergab sich dem, was in diesen unruhigen Jahren in ihm entstanden war. „Erlauben Sie, dass ich gehe, Genosse General?“ „Tadellos, Sascha,“ sagte Maxim Iwanowitsch, „leg den Mantel ab, trinken wir auf unser Zusammentreffen.“ „Maxim,“ sprach Sascha ernst, „genau deswegen wollte ich nicht zu dir fahren; ich kenne dich allzu gut.“ ... Ein Kloß stieg ihm in die Kehle, Maxim Iwanowitsch holte tief Luft, legte Sascha die Hand auf die Schulter. „Danke, Sascha... Danke, dass du so an mich gedacht hast. Trotzdem, setz dich!“ Er entfernte sich schnell von Sascha, öffnete die Tür, befahl dem Adjutanten: „Organisiere uns ein paar Tropfen mit einem Imbiss und Tee.“ „Maxim,“ fing Sascha von Neuem an... „Doch!“ schnitt ihm Maxim Iwanowitsch das Wort ab. „Hier bin ich der Vorgesetzte sowohl nach der Dienststellung als auch nach dem Rang.“ So träumt mir das Zusammentreffen zweier meiner Helden. Aber ob diese Szene in der Zukunft in der gleichen Weise bestehen bleiben wird, weiß ich nicht. Die Personen eines Romans besitzen die Fähigkeit, ein Eigenleben zu führen; dem Autor bleibt nur, es nieder zu schreiben. Ich weiß auch nicht, ob ich es schaffe, einen Folgeroman zu schreiben. Aber wenn das Schicksal mir noch einige Jahre bewilligt, hoffe ich, den Bericht bis zum Jahr 1956 zu führen, bis zum Zwanzigsten Kongress, als Tausende völlig unschuldiger Leute ins Leben zurück gebracht wurden und als sie denen, die man nicht mehr ins Leben zurück bringen konnte, wieder rechtschaffene Namen gaben. Übersetzung aus der Moskauer russischen Ausgabe: Anatolij Rybakow, Deti Arbata Moskwa, Sowetskij Pisatel 1987 Anmerkungen des Übersetzers: [1] See an der koreanischen Grenze, an dem es 1938 zu Kriegshandlungen mit der japanischen Armee kam [Quelle: Malaja sowetskaja enziklopedija, 3. Auflage 1960]. [2] Manchmal auch Chalchyn-Gol geschriebener Fluss von 233 km Länge nahe der chinesischen Grenze, an dem es 1939 zu Kriegshandlungen mit der japanisch-mandschurischen Armee kam [Quelle: Malaja sowetskaja enziklopedija, 3. Auflage 1960]. |
Übersetzung von Hans-Rudolf Hower 2003
Letzte Aktualisierung: 06.04.16