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Für den Menschen als geschlechtliches Lebewesen ist unsere Titelfrage schnell beantwortet: Er braucht zwei gegensätzliche Geschlechter, nämlich männlich und weiblich, um als Art zu überleben. Das Gleiche gilt für die Vielzahl anderer geschlechtlicher Wesen, sowohl Tiere als auch Pflanzen, die immer als weibliche und männliche Exemplare existieren. Als männlich gilt dabei der samenproduzierende Teil, als weiblich der eiproduzierende oder samenempfangende Teil. Auch Zwitterwesen passen in den zweigeschlechtlichen Raster, denn sie vereinen beide Geschlechter in einem einzigen Wesen oder wechseln einander in der Geschlechterrolle ab.
Daneben gibt es aber den ganzen Rest der Welt, der keine natürliche Geschlechtsunterscheidung hat. Dazu gehören alle unbelebten Gegenstände genauso wie abstrakte Begriffe und erfundene Welten.
Jede menschliche Sprache versucht aber, die für den Menschen irgendwie erlebbaren oder wenigstens erdenkbaren Welten zu ordnen und zu beschreiben. Sie hat also - grob gesagt - mit geschlechtlichen und ungeschlechtlichen Wesen, mit ungeschlechtlichen Dingen und ebensolchen abstrakten Begriffen zu tun. Was machen Sprachen daraus?
Gibt es eine natürliche Geschlechtseinteilung?
Da der Mensch - wie gesagt - ein geschlechtliches Wesen ist und auch der größte Teil der ihm geläufigen Tier- und Pflanzenwelt auf dem Gegensatz zwischen zwei Geschlechtern beruht, sollte man für die menschlichen Sprachen eine natürliche Geschlechterordnung erwarten, die männlich und weiblich unterscheidet und alles nicht in diese Kategorien Passende als keines-von-beiden (= lateinisch ne-utrum) bezeichnet. Da läuft jedem Altphilologen erst einmal das Herz über, denn das entspräche genau der altehrwürdigen lateinisch-griechischen Grammatik. Die Wirklichkeit sieht trotz der schönen Theorie jedoch ganz anders aus (auch für Latein und Griechisch)! Zwar werden Personen und manchmal auch Tiere von sehr vielen - nicht allen! - Sprachen nach ihrem natürlichen Geschlecht behandelt, selbst wenn das betreffende Wort eine gegenteilige Form aufweist (Paradebeispiel: lateinisch agricola [der Bauer] ist männlich trotz weiblicher Endung), aber ansonsten herrscht meist ein nur locker von formalen Kriterien (z.B. mehr oder weniger geschlechtsspezifischen Endungen) zusammengehaltenes Chaos, in dem das Geschlecht eines Wortes nichts mit dem natürlichen Geschlecht der betreffenden Sache oder Daseinsform zu tun hat. Und noch dazu ist dieses Chaos in fast jeder Sprache ein anderes! Man nennt den Verursacher dieses Schlamassels das grammatische Geschlecht.
Deutsch als Beispiel
Das Deutsche kennt ein männliches, ein weibliches und ein sächliches Geschlecht (Maskulinum, Femininum, Neutrum). Wenn man aber betrachtet, wie diese Geschlechter auf Dinge, Pflanzen, Tiere und sogar Menschen verteilt sind, kann man nur das Überwiegen einer großen Unordnung feststellen.
Aber es kommt noch schlimmer: Sächlich sind z.B. auch Fräulein, Luder, Mädchen! Obwohl da das natürliche Geschlecht nicht zu verleugnen ist... Ich kann schon nicht mehr sagen, wieviele Ausländer mich verschreckt gefragt haben, ob wir Deutsche da ein sexuelles Problem haben! - Dagegen ist eine Waise immer weiblich, auch wenn es ein Bub ist. Da kenne sich einer aus!
Ganz zu schweigen von der Tierwelt: Ameise, Ammer, Amsel, Drossel, Gemse, Robbe, Ziege und viele andere Tiere sind in der Laiensprache immer weiblich, auch wenn es sich um ein Männchen handelt. Umgekehrt sind Affe, Fink, Fisch, Hase, Rabe, Star, Steinbock, Wal und viele andere Tiere in der Laiensprache immer männlich, auch wenn es sich um ein Weibchen handelt. Daneben gibt es auch sächliche Tiere wie Chamäleon, Frettchen, Huhn und Mammut. Man muss also bei Bedarf zu so in sich widersprüchlichen Zusammenstellungen wie eine männliche Amsel (kurz: ein Amselmännchen) oder ein weiblicher Fink (kurz: ein Finkenweibchen) greifen.
Unter den Substantiven und den Wortbildungselementen gibt es sogar Transvestiten, die je nach Sinn oder Umgebung ihr Geschlecht wechseln: Der (männliche) Mut steckt nicht nur im (männlichen) Freimut, sondern auch in der (weiblichen) Wehmut. Es gibt den Tau und das Tau. Die Endung -nis bildet nicht nur Bildnis und Zeugnis (beide sächlich), sondern auch Finsternis und Wildnis (beide weiblich).
Bei Fremdwörtern kann die geschlechtliche Behandlung auch mal eine ewige Streitfrage bleiben. Ein besonders krasses Beispiel hierfür ist der, die oder das Dschungel.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die deutsche Sprache ihre ganz eigene Geschlechteraufteilung hat, die nicht immer mit der biologischen Wirklichkeit oder mit derjenigen anderer Sprachen übereinstimmt und bei unbelebten Dingen jeder natürlichen Grundlage entbehrt.
Latein als Beispiel
Trotz einiger Besonderheiten und seiner sprachgeschichtlichen Alleinstellung innerhalb der indogermanischen Sprachen ist das klassische Altgriechisch in Bezug auf die Geschlechterbehandlung dem Lateinischen sehr ähnlich. Der (z.B. typografischen) Einfachheit halber beschränken wir uns daher auf die Präsentation des Letzteren.
Das Lateinische kennt wie das Deutsche ein männliches, ein weibliches und ein sächliches Geschlecht (Maskulinum, Femininum, Neutrum). Die Verteilung dieser Geschlechter auf Dinge und Pflanzen folgt jedoch teils formalen Kriterien (sozusagen geschlechtsspezifische Endungen), teils mythologischen Vorgaben (nach dem Geschlecht der unterstellten Götterpräsenz). Beim Menschen schlägt dagegen in der Regel das natürliche Geschlecht durch, bei Tieren in vielen Fällen ebenfalls. Die Einteilung geschieht oft auch in Widerspruch zu einer geschlechtsspezifischen Endung.
In der Tierwelt gibt es oft eine männliche und eine weibliche Form, z.B. anser / ansera (Gans), caper / capra (Bock / Ziege), equus / equa (Hengst / Stute), fringillus / fringilla (Spatz, Fink), merulus / merula (Amsel), turdus / turda (Drossel). Vor allem bei Vögeln ist hierbei aber nicht immer ein Geschlechtsunterschied gemeint, und von anas (Ente) sowie aquila (Adler) gibt es sowieso nur eine weibliche Form.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die lateinische Sprache wie das Deutsche ihre ganz eigene Geschlechteraufteilung hat, die nicht immer mit der biologischen Wirklichkeit oder mit derjenigen anderer Sprachen übereinstimmt und bei unbelebten Dingen jeder natürlichen Grundlage entbehrt.
Wozu dient die sprachliche Geschlechtseinteilung?
Oberflächlich gesehen, dient die Geschlechtsangabe zwar dazu, anzugeben, ob man es mit Mann oder Frau, mit Männchen oder Weibchen, mit männlicher oder weiblicher Pflanze zu tun hat. Da der weit größere Teil der sprachlichen Benennungen aber nur ein grammatisches, also kein natürliches Geschlecht aufweist, kann das nicht alles sein. Und so ist es! Die parallele Analyse von Texten, die in mehreren Sprachen vorliegen, zeigt, dass die Verteilung der Begriffe auf mehrere Geschlechter ein mächtiges Werkzeug zur Textstrukturierung darstellt. Je mehr verschiedene Geschlechter in einem Textabschnitt vorkommen, desto leichter und eleganter ist es, zweifelsfreie Quer- und Rückbezüge auszudrücken. Die gesamte antike griechische und lateinische Literatur mit ihren komplizierten und verschachtelten Perioden (Sätzen) wäre undenkbar ohne die ständige Wiedergabe des grammatischen Geschlechts, welche die bedeutungsmäßige Verbindung zwischen oft weit voneinander entfernten Wörtern (z.B. Substantiv und Adjektiv) sichtbar macht. Oder: Wenn ein Ehepaar gerade ein Päckchen bekommen hat, gibt es in einem deutschen Satz wie Sie bat ihn, es auf den Tisch zu legen. keine Zweifel an der Rollenverteilung. Im Ungarischen, wo er, sie und es unterschiedslos mit ő wiedergegeben wird und kein grammatisches Geschlecht existiert, müsste ein ähnlicher Sinn anders, wenn auch nicht unbedingt umständlicher ausgedrückt werden, um alle Zweifel zu beseitigen.
Die folgende Zusammenstellungen vergleichen beispielhaft einige Sprachen, um deren unterschiedliche Geschlechtsproblematik aufzuzeigen.
Wieviele Geschlechter gibt es?
In den mir bekannten Sprachen kommen höchstens drei Geschlechter vor. Aber wenn auch viele Sprachen drei Geschlechter kennen, so heißt das noch lange nicht, dass es immer die gleichen sind, und auch nicht, dass sie in gleicher Weise benutzt werden. Die Beispiele der folgenden Tabelle sprechen Bände.
Zwischenbemerkung: Vielleicht gibt es in irgendeiner mir unbekannten Sprache doch mehr als drei Geschlechter. Wenn Sie etwas darüber wissen, melden Sie sich bitte. Vielen Dank im Voraus!
Geschlechter |
Beispielsprachen |
Anmerkungen |
männlich, weiblich, sächlich |
Altgriechisch, Deutsch, Englisch, Latein, Polnisch, Russisch |
Im Altgriechischen, Lateinischen, Polnischen und Russischen gibt es durchgängig in Ein- und Mehrzahl alle drei Geschlechter. Das natürliche Geschlecht wird bei Mensch und (oft) Tier berücksichtigt, aber sonst hängt das Geschlecht nur an der Endung der betr. Substantive. Das Englische erscheint einem zunächst sehr vernünftig, weil es eine Geschlechtsdifferenzierung zwischen männlich und weiblich nur da macht, wo sie eine natürliche Grundlage hat: bei Personen und liebgewordenen Haustieren. Alles andere ist sächlich, d.h. uninteressanten Geschlechts. Aber Schiffe und manche Staaten sind weiblich... Im Deutschen gibt es in der Einzahl eine willkürlich erscheinende Verteilung der Geschlechter, die nicht einmal bei Menschen das natürliche Geschlecht immer respektiert. Deutsch und Englisch machen in der Mehrzahl überhaupt keine Geschlechtsunterscheidung. Das Polnische unterscheidet bei manchen Verbformen, bei Adjektiven und adjektivisch deklinierten Wortarten im Plural nur zwischen Personalform (= Männer) und Sachform (= alles andere, auch Frauen). |
Italienisch, Rumänisch |
Als gemischt gelten Wörter, die im Singular wie männliche, im Plural jedoch als weibliche behandelt werden. Den Anstoß zur Entwicklung solcher Wörter haben vermutlich lateinische Neutra (sächliche Wörter) gegeben, deren Mehrzahlendung -a im Lauf der Jahrhunderte wegen ihres Gleichlauts mit der verbreitetsten weiblichen Einzahlendung als weiblich missverstanden wurde. Das Italienische hat zusätzlich die Spezialität, dass es für die geschlechtlich gemischten Wörter meist auch eine männliche Mehrzahlform mit einer anderen Bedeutung gibt. Beispiele: il labbro (die Lippe, der Rand) - le labbra (die Lippen) - i labbri (die Ränder). In beiden Sprachen gibt es eine in den Grammatiken nicht als Neutrum beschriebene und sehr beschränkte Möglichkeit, etwas Sächliches (d. h. weder Männliches noch Weibliches) auszudrücken. Doch werden dafür männliche oder weibliche Formen hergenommen. Beispiele: Italienisch: tutto (alles), tutto quanto (alles, was), ciò che (das, was), ciònonostante (nichtsdestoweniger). Rumänisch: în afară de aceasta (außerdem), de aceea (deswegen), o ştiu (ich weiß es). Die gemischte Deklination kann zu eigenartigen Sprechsituationen führen, wie folgendes Beispiel aus dem Italienischen zeigt: Zur Wahrung des syntaktischen Zusammenhangs passt sich hier bei dem gemischtgeschlechtlichen Wort das Geschlecht der Einzahl an dasjenige der Mehrzahl an. So gefunden in Umberto Eco, Il cimitero di Praga (Seite 460/461). |
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männlich, weiblich |
Französisch, Portugiesisch, Spanisch |
In diesen Sprachen gibt es eine in den Grammatiken nicht als Neutrum beschriebene und sehr beschränkte Möglichkeit, etwas Sächliches (d. h. weder Männliches noch Weibliches) auszudrücken. Doch werden dafür meist männliche Formen hergenommen. Beispiele: Französisch: ce qui / que (das, was), ce faisant (dadurch), c'est (das ist), cependant (hingegen), il est important (es ist wichtig), quoi (was), pourquoi (warum, wofür). Die Wörter ce und quoi in den vorstehenden Verbindungen sind unbestreitbar Reste sächlicher Formen des Lateins, die sich auch im modernen Französisch von den anderen Geschlechtern unterscheiden. Die Gegensätze sind celui (m.) - celle (w.) - ce (s.) und qui (m./w.) - que (s.). Portugiesisch: qué (was), porqué (warum, wofür), o que (das, was). Spanisch: qué (was), porqué (warum, wofür). |
utrum, ne-utrum |
Dänisch, Norwegisch, Schwedisch |
Diese Sprachen unterscheiden bei allen Wortarten nur zwischen Utrum (beide Geschlechter, d.h. männlich oder weiblich) und Neutrum (keines von beiden, d.h. sächlich). Wer hier ein am natürlichen Geschlecht orientiertes System erwartet, wird enttäucht, denn die grammatischen Regeln gehen auch bei diesen Sprachen ihre eigenen Wege. Beispiele aus dem Schwedischen: Manche Grammatiken sprechen bei den persönlichen Fürwörtern (Personalpronomina) des Dänischen, Norwegischen und Schwedischen - und nur bei dieser Wortart - allerdings von vier Geschlechtern. Beispiel aus dem Schwedischen: |
ohne Geschlecht |
Grammatisch gesehen, gibt es im Ungarischen kein einziges Geschlecht. Man kann noch nicht einmal bei Menschen zwischen er und sie unterscheiden. Den deutschen Fürwörtern er, sie und es entspricht ein einziges, ungeschlechtliches ő. Auch bei Besitzverhältnissen kann kein Geschlecht unterschieden werden: a fia kann sein oder ihr Sohn sein. Es gibt bei keiner Wortart geschlechtsspezifische Endungen oder Ähnliches. Man kann bei Substantiven lediglich durch Zusätze wie lány" (Mädchen) oder nő (Frau) bzw. fiú (Junge) oder férfi (Mann) auf das natürliche Geschlecht einer Person hinweisen, wenn man es für wichtig hält, aber selbst diese Wörter haben im Ungarischen grammatisch kein Geschlecht. Dementsprechend kann man bei Eigenschaftswörtern und Fürwörtern ebenfalls keinen Geschlechtsunterschied ausdrücken. Es gibt lediglich die Möglichkeit, bei einigen Wörtern - aber geschlechtsneutral - zwischen Menschen und Sachen zu unterscheiden, z. B.: ki (wer?) - mi? (was?), valaki (jemand) - valami (etwas), senki (niemand) - semmi (nichts). |
Zusammenfassung
Die Geschlechtereinteilung menschlicher Sprachen - soweit sie überhaupt eine solche haben - orientiert sich beim Menschen meist - aber nicht immer - am natürlichen Geschlecht. Bei anderen lebenden Wesen ist dies immer weniger der Fall, je weiter das betreffende Tier vom allgemeinen Lebensumfeld der Menschen entfernt ist. Unbelebten Dingen wird in vielen Sprachen ein grammatisches Geschlecht zugeschrieben, dem keinerlei Wirklichkeit entspricht. Neben dem etwaigen Ausdrücken des natürlichen Geschlechts liegt der Nutzen einer sprachlichen Geschlechtsunterscheidung in der möglicherweise leichteren Verständlichkeit komplizierter Satzstrukturen.
Ist nach all dem Gesagten eine Sprache mit ausgeprägter Geschlechterunterscheidung besser als eine Sprache mit schwacher oder gar keiner Geschlechterunterscheidung?
Nein. Die gesamten Strukturen einer Sprache bilden eine Art Netz, in dem jede mögliche Schwachstelle durch andere Stärken ausgeglichen wird, die ihrerseits völlig andere, der Vergleichssprache unbekannte Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen können. Eine Sprache, die alle sogenannten Stärken enthielte, wäre entsetzlich redundant und nicht praxistauglich. Wenn eine Sprache auf ein strukturierendes Element wie das Geschlecht weitgehend oder ganz verzichtet, kann man davon ausgehen, dass sie dieses aufgrund anderer Strukturelemente nicht braucht.
Eine ganz andere Geschichte ist die gesellschaftliche Einordnung der geschlechtsspezifischen Anrede. In den heutigen Zeiten der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Erweiterung des Spektrums um biologische Sonder- und Zwischenformen kann jede geschlechtsspezifische Nennung einer Person genau wie der Verzicht auf eine solche als Diskriminierung aufgefasst werden. Und schon schlagen die Wogen hoch. Einen Eindruck von der Diskussion gibt ein Artikel der Welt vom 24.11.2014 unter dem Titel Gender-Debatte hält das Interesse an Sprache wach.
Wenn Sie Fragen, Einwände, Materialien, Verbesserungs- oder Erweiterungsvorschläge zur Geschlechtsproblematik oder unserer Darstellung haben, dann schreiben Sie uns bitte. Vielen Dank im Voraus!
Hans-Rudolf Hower 2009
Letzte Aktualisierung: 04.04.16