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Entstehung der Gebärdensprachen
Gebärdensprachen sind teilweise schon vor Jahrhunderten an verschiedenen Orten der Weltkugel entstanden, wo in größeren Gruppen sehr schwerhöriger oder gehörloser Menschen eine lautliche Verständigung kaum oder gar nicht möglich war. Natürlich gibt es inzwischen für spezielle Zwecke auch ein Gebärdenalphabet, aber genau wie in einer gesprochenen Sprache die Verständigung nicht buchstabenweise, sondern begriffs-, satz- oder abschnittsweise geschieht, werden in den Gebärdensprachen komplexe Kommunikationsinhalte in einer einzigen Gebärde zusammengefasst. Zur Verwirklichung dieser Gebärde können Mimik, Blick, Mundbild und Körperhaltung herangezogen werden. Erst dadurch wird eine flüssige Verständigung in einer angemessenen Geschwindigkeit ermöglicht. Es ist für einen hörenden Menschen immer wieder beeindruckend, Gehörlose in angeregter Unterhaltung untereinander oder als Schauspieler auf der Bühne zu erleben.
Gebärdensprachen entstehen meist parallel zu und in Auseinandersetzung mit einer gesprochenen Sprache, denn die Gehörlosen bilden in der Regel eine Minderheit in einer hörenden Gesellschaft. Dies hat die Entstehung von Gebärdensprachen fördert, die sozusagen in Geistesverwandtschaft mit einer bestimmten gesprochenen Sprache stehen, dieser also quasi zuzuordnen sind. Dass diese Verwandtschaft nicht absolut zwingend ist, beweist die Geschichte der Finlandssvenskt teckenspråk (Finnlandschwedische Gebärdensprache).
Da es sehr viele parallel zu den verschiedenen Lautsprachen existierende Gebärdensprachen gibt, können unsere Seiten nur einige markante Sprachbeispiele bringen, also auf keinen Fall Vollständigkeit anstreben. Unsere Informationen können überhaupt nur einen groben Überblick über die Fülle der nationalen und regionalen, zum Teil konkurrierenden Varianten verschaffen. Für weitere Informationen müssen wir auf weiterführende Literatur und Internet-Seiten verweisen.
Das größte Unglück für die europäischen Gebärdensprachen war ausgerechnet ein Taubstummenlehrerkongress, nämlich der von Mailand im Jahre 1880. Dort hatten gehörlose Lehrer kein Stimmrecht, und es wurde beschlossen, dass der Gebrauch von Gebärdensprachen im Sprachunterricht verboten war (siehe Milan 1880). Dieser Beschluss behinderte die Weiterentwicklung des Sprachunterrichts für Gehörlose je nach Land bis zu einem vollen Jahrhundert! Glücklicherweise wurde dieses Verbot vielerorts inoffiziell übergangen, so dass nach der Aufhebung des Verbots nicht wieder von Null angefangen werden musste.
Achtung, Vorurteil: Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind die Gebärdensprachen keine künstlichen oder Plan-Sprachen. Sie haben sich - wie auch die Lautsprachen - auf natürliche Weise in verschiedenen Bevölkerungsgruppen an verschiedenen Orten entwickelt. Ihre gezielte Weiterentwicklung und Standardisierung kam erst in einem zweiten Schritt. Auch diese Entwicklung teilen sie mit allen Hoch- oder Literatursprachen. Es gibt jedoch weiterhin eine fortlaufende, von den jeweiligen Kommunikationspartnern bewusst oder unbewusst betriebene Weiterentwicklung der Gebärdensprachen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene. Dies hat zur Folge, dass auch bei den Gebärdensprachen Dialekte entstanden und entstehen - mit den auch bei den Lautsprachen bekannten Heimatgefühlen und überregionalen Verständigungsschwierigkeiten. Der Vergleich mit den gängigen Definitionen des Begriffs natürliche Sprache (siehe unten bei Wikipedia) bestätigt die Zugehörigkeit der Gebärdensprachen zu den natürlichen Sprachen. Sie teilen mit diesen eine historische, diachrone Entwicklung, strukturelle und lexikalische Vagheiten und Uneindeutigkeiten, die Abbildung des unscharfen Wissens einer Bevölkerung, eine hohe Flexibilität, weil sie auf die Belange von Kleinkindern ebenso Rücksicht nehmen muss wie auf die von ausgebildeten Fachkräften und die weite Verbreitung in einer Bevölkerung.
An dieser Stelle ist leider eine Kritik an einigen Gehörlosenportalen fällig: Es ist immer schade, wenn sich eine Sprachpräsentation eng an das Vorführen einzelner Begriffe ohne Umtext hält. Dadurch entsteht ein Bild von der Gebärdensprache, das (mindestens) seit Jahrzehnten überholt ist, nämlich das Bild eines Notbehelfs zum Erlernen der gesprochenen Sprache. Heutige Gebärdensprachen können in aller Regel viel viel mehr, nämlich genauso viel wie die gesprochenen Sprachen: das Abbilden eines kompletten und komplexen Weltbildes.
Wenn Sie Verbesserungs- oder Erweiterungsvorschläge zu unserer Darstellung haben, schreiben Sie uns bitte! Vielen Dank im Voraus!
Internationale Gebärdensprache
Da Gebärden sich nicht am Lautgefüge einer gesprochenen Sprache, sondern an den zu übermittelnden Inhalten orientieren, liegt die Idee nahe, dass die Entwicklung einer internationalen Gebärdensprache möglich sein sollte. Leider ist die Sache jedoch bei Gebärdensprachen nicht einfacher als bei gesprochenen Sprachen. Zwar versucht man immer wieder, bei internationale Veranstaltungen auf pragmatischem Weg zu einer gebärdeten Verständigung über die nationalen Sprachgrenzen hinweg zu kommen, doch steht der wirkliche Durchbruch zu einer internationalen Gebärdensprache immer noch aus - und wird vielleicht nie stattfinden. Das Problem ist nämlich, dass jede Sprache über ihren Wortschatz, ihre Strukturen und eben auch ihre Gebärden bestimmte Weltbilder und Denkmuster mit teils subtilen, teils massiven nationalen Eigenheiten ausdrückt. Kein Mensch kommt da aus, denn er hat diese Muster von Geburt an sein ganzes Leben lang verinnerlicht. Selbst die frühkindliche Synapsenbildung im Gehirn wird durch die Muttersprache(n) geprägt. Welche Weltbilder und Denkmuster soll man also einer internationalen Gebärdensprache zu Grunde legen? Hier sind Konventionen gefordert, bei deren Ausarbeitung natürlich jeder Experte seinen eigenen nationalsprachlichen Hintergrund wissentlich oder unwillkürlich einbringt. Selbst gehörlose Experten leben gewöhnlich in einem nationalsprachlichen Umfeld, das ihr Denken und Fühlen ständig beeinflusst. Kontinuierlich müssen aber wegen Fortschritten von Wissenschaft und Technik neue Sprachelemente gefunden und eingeführt werden. Wer ist also intellektuell und finanziell in der Lage, für diese unablässige Weiterentwicklung einer internationalen Gebärdensprache zu sorgen?
Dazu kommt die Schwierigkeit der allgemeinen Durchsetzung einer internationalen Gebärdensprache. Weltweit ist das nicht zu schaffen. In geografischen oder fachlichen Teilgebieten ergibt sich eine Übereinkunft immer wieder einmal spontan, meist durch pragmatische Anpassung kleinerer oder schwächerer Gruppen an die Gebärdensprache der größeren oder stärkeren Gruppe. Auch führen akademische Austauschprogramme oft zur Anpassung an die Gebärdensprache des Gastlandes.
All dies scheint den wachsenden Einfluss der Amerikanischen Gebärdensprache (American Sign Language) z.B. bei wissenschaftlichen Kongressen zu erklären. Andere Beispiele zeigen jedoch, dass es sehr wohl auch ohne ASL und ISL geht. Thomas Günzel vom Berufsbildungswerk Leipzig für Hör- und Sprachgeschädigte gGmbH berichtet unter Europa-Wege für Jugendliche mit Hör- oder Sprachbehinderung von einer Begegnung junger deutscher, französischer und polnischer Gehörloser in Krakau, bei der die Jugendlichen trotz der Unterschiede ihrer drei Gebärdensprachen sich sehr schnell untereinander verständigen und sogar die Informationen der Fremdenführerin über die Sprachgrenzen hinweg weitergeben konnten. Was man sich bei den betreffenden gesprochenen Sprachen überhaupt nicht vorstellen könnte.
Die Problematik der internationalen Kommunikation zeigt sich bei den Gebärdensprachen also nicht anders als bei den gesprochenen Sprachen. Man betrachte nur die Schwierigkeiten internationaler Sprachen wie Esperanto oder Volapük (siehe Plansprache, Kunstsprache, Welthilfssprache) und die Tendenz zu Englisch als lingua franca.
Gibt es also keine internationale Gebärdensprache? Doch, schon! Sie hieß in ihren Anfängen Gestuno und heißt in ihrem heutigen Entwicklungsstadium International Sign Language (ISL). Aber sie ist keine natürliche Gebärdensprache, sondern eine künstlich erzeugte, eine Plansprache. Sie besteht hauptsächlich aus einer großen Gebärdensammlung, während ihr eine wirkliche Grammatik weitgehend fehlt. Und sie teilt das Los aller bisher bekannten internationalen Plansprachen: Sie hat ihre umgrenzte Gemeinde von Überzeugungstätern, aber ihre Wirkung geht kaum über die Grenzen dieser Gemeinde hinaus.
Näheres siehe dt. Wikipedia unter Internationale Gebärdensprache.
Taktile Gebärdensprache
Die taktile Gebärdensprache dient der Verständigung mit blinden Gehörlosen. Die Übermittlung der Gebärden erfolgt hier durch Berührung (daher taktil im Namen) über je eine Hand oder beide Hände der Kommunikationspartner. Es handelt sich also um eine Gebärdensprache unter verschärften Bedingungen. Wegen der Notwendigkeit des körperlichen Kontaktes kann diese Sprache nicht wie andere Gebärdensprachen auf Entfernung benutzt werden.
Näheres siehe unsere Links.
Internet
Beachten Sie bitte unsere rechtlichen Vorbehalte bei allen Internet-Verweisen.
Adresse / Eigner |
Inhalt / Themen |
Europa-Wege für Jugendliche mit Hör- oder Sprachbehinderung In: taubenschlag.de. |
Packender Bericht von einer Begegnung junger deutscher, französischer und polnischer Gehörloser in Krakau, bei der die gebärdensprachliche Übersetzung schneller war als die lautsprachliche. Obwohl die improvisierten Gebärdendolmetscher die fremde Gebärdensprache gerade erst vor Ort kennengelernt hatten. |
Von taubenschlag.de. |
Forum mit interessanten Beiträgen zum Thema Unterschiede zwischen nationalen Gebärdensprachen und Fremdsprachenlernen von Gehörlosen. |
In dt. Wikipedia. |
Längerer Lexikonartikel über die Gebärdensprache allgemein (Definition, Abgrenzung, Funktion, Geschichte, Gesetze, nationale Bindung, internationaler Ausblick). Wichtiger Einleitungssatz: Gebärdensprachen sind wissenschaftlich als eigenständige und vollwertige Sprachen anerkannt. Sie haben eigene grammatikalische Strukturen, die sich von der Lautsprache des jeweiligen Landes grundlegend unterscheiden. Daher lässt sich Gebärdensprache nicht Wort für Wort in Lautsprache umsetzen. Mit vielen Lernprogramm-, Film-, Literatur- und Internethinweisen. Siehe auch die entsprechenden Artikel in anderssprachigen Wikipedia-Versionen: Dänisch: Tegnsprog (nur ein paar allgemeine Zeilen). Englisch: Sign language. Französisch: Langue des signes. Italienisch: Lingua dei segni. Katalanisch: Llengua de signes. Niederländisch: Gebarentaal. Norwegisch (Nynorsk): Zu Tegnspråk gibt es derzeit keinen Artikel. Portugiesisch: Língua gestual (oder Língua de sinais). Schwedisch: Teckenspråk. Spanisch: Lengua de signos. |
Gebärdensprache - Wink mit Bedeutung Von 3sat. |
Kurzdarstellung der Gebärdensprache als eigene Sprache, mit Hinweis auf das lautsprachbegleitende Gebärden, das nicht zur Gebärdensprache gehört. |
Geschichte der Gebärdensprachen In dt. Wikipedia. |
Kurzer Lexikonartikel über die Entstehung und Geschichte der Gebärdensprachen, mit Links zu Gebärdenbüchern. |
Von: Sematos. |
Videosequenzen für die wichtigsten englischen Ausdrücke in ISL und manchmal zusätzlich in spanischer Gebärdensprache (LSE). |
International Bibliography of Sign Language Von: Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser der Universität Hamburg |
Weltweit angelegte Datenbank für alle Publikationen zu Gebärdensprachen. |
Internationale Gebärdensprache In dt. Wikipedia. |
Sehr kurzer Lexikonartikel über Gestuno und die internationale Gebärdensprache, mit einigen wenigen Links. |
Jelnyelv (Gebärdensprache) In ungar. Wikipedia. |
Lexikonartikel über Gebärdensprache im Allgemeinen (auf Ungarisch). |
In dt. Wikipedia. |
Umfangreiche Liste der auf der Erde existierenden Gebärdensprachen, geografisch geordnet. Die frz. Wikipedia bringt unter Liste des langues des signes eine etwas andere geografische Liste und den Ansatz einer nach Gebärdensprachfamilien geordneten Liste, d.h. einer die entstehungsgeschichtlichen Verwandtschaftsbeziehungen der Gebärdensprachen widerspiegelnden Liste (auf Französisch). Leider führen viele Links nur zur Aufforderung, selbst einen Artikel über die betreffende Gebärdensprache zu schreiben. |
Selbstdarstellung: Welcome to the Milan 1880 website which is about the alarming and key chapter of Deaf history – the infamous Milan 1880 Congress – that had created a turbulent and divided legacy in the education, the history and the lives of Deaf people to this day. |
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In dt. Wikipedia. |
Lexikonartikel zur Definition des sprachwissenschaftlichen Begriffs natürliche Sprache und seiner Abgrenzung gegenüber künstlichen Sprachen. Die beiden hier erläuterten Definitionen natürlicher Sprachen passen auch für die Gebärdensprachen. |
Offizielle Namen und Standard-Abkürzungen der heutigen Gebärdensprachen In dt. Wikipedia. |
Weltweit angelegte Linkliste zu heute gebräuchlichen Gebärdensprachen, dazu eine kurze Linkliste zu historischen Gebärdensprachen und zu Plansprachen unter den Gebärdensprachen. |
Sign language recruits the same neural systems as spoken language |
Artikel von medicalxpress.com über die Hirnaktivität bei Gebärdensprachen (auf Englisch). |
In dt. Wikipedia. |
Lexikonartikel über diese Behinderung und die daraus hervorgehende Notwendigkeit taktiler Gebärdensprachen (mit Links auf solche). Beispiele taktiler Gebärdensprachen findet man in der dt. Wikipedia z.B. unter Lormen und Tadoma. |
Portal für Gehörlose und Schwerhörige. |
Literatur
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Hans-Rudolf Hower 2009
Letzte Aktualisierung: 04.04.16